Ausgelaugt

Es ist dieser grelle Ton. Dieser Wecker. Dein Smartphone, das so ertönt, bevor du es mit einem Wischen abschaltest oder das Klingeln auf später verschiebst. Es war nie anders, das Aufwachen im Morgengrauen. Früher hattest du aber eine normale Weckuhr, die einfache Töne piepsen konnte, anfangs langsam und dann immer schneller. So bist du aufgewacht, hast dann den großen Knopf gesucht, gedrückt und das Ding war für eine Weile still. Das waren grausame Zeiten, ich weiß. Aber vielleicht waren das Zeiten, die du dir jetzt zurückwünschst. Deine Kindheit. So leer wie du heute bist, so leer warst du damals nicht
Aber das Aufwachen hat sich dennoch nicht gebessert, egal ob du nun einen Standardweckerton oder die himmlischen Melodien eines Morgenwaldes einstellst. Es ist eine Qual im Ohr, wenn du im Halbschlaf diese Frequenzen wahrnimmst, die dein Trommelfell kitzeln. "Schlummern", was für ein passendes Wort, das du nun ganz leicht mit deinem Finger berührst und die brennenden Augen wieder schließt. Fünf Minuten noch, diesen süßesten Schlaf genießen. Es ist reine Willenssache, ob und wann du aufstehst und dann denkst du immer noch ein Stückchen voraus, zumindest je nachdem ob du der Typ Mensch bist, der morgens duscht, oder der Typ, der es abends tut. Außer Sonntags, da duscht du sogar mittags. Jedenfalls, je nach Situation, ist deine Lust aufzustehen größer oder kleiner. Dann wiederum kommt die Entscheidung, ob du heute gut aussehen wirst oder scheiße. Wenn du alles erledigt hast und losläufst, kehren diese Gedankengänge zurück, die dich leer machen.
Die Buszeiten hast du auswendig gelernt, auf die Minute. Du bist in deiner Routine, oder wie ein berühmter Autor einmal sagte, das morgentliche Aufstehen verblöde einen. Du siehst jeden Morgen im Bus die selben Gesichter. Nun gut, vielleicht hat sich das eine oder andere Gesicht in den Jahren verändert oder ist nicht mehr da. Aber es sind deine Freunde geworden. Deine Freunde mit denen du nie sprichst. Der Busfahrer - vielleicht hast du ihm einen Morgengruß gegeben - ist auch nicht mehr der jüngste. Du kennst alle Busfahrer, alle Schichten du und alle Passagiere. Alle sind aus dem selben Grund wie du im Bus und doch verhalten sich ihre Gründe zu deinen, wie sie sich unterschiedlicher nicht verhalten könnten. Ihr seid Freunde und kennt euch nicht, weil du Kopfhörer in dein Ohr steckst und lieber Leuten zuhörst, die du noch nie gesehen hast. Aber seien wir ehrlich, ohne Musik, wäre die Szene doch langweilig. Obwohl dein Trommelfell heute morgen bereits auf unnatürlichste Weise reichlich beansprucht wurde, gibst du ihm nochmal den Rest mit diesen Stöpseln, die die Bakterienzahl anscheinend versiebenfachen sollen. Wenn wir dann noch die Strahlung deines Smartphone's miteinkalkulieren würden - aber Halt. Es geht nicht um Gesundheit in diesem Text, auch nicht um irgendwelche wissenswerten Fakten.
Schauen wir uns die Überschrift nochmal an. Es geht um deine Müdigkeit und wie ausgelaugt du bist, und das bist du momentan wirklich, wenn du kein Sitzplatz hast und dich an den, von Keimen überströmten, Stangen festhältst. Es wird viel von dir erwartet und du wirst herumgeschüttelt von der Last, wie auch im Bus, wenn er hart bremst oder wieder anfährt. Irgendwann im Leben hast du beschlossen dich zu ändern, irgendwann damals - du weißt nichtmal mehr wann das war. Du bist aus dem Bus ausgestiegen. Du wartest wie alle anderen an der Haltestelle bis eine Durchsage die Ankunft der elektrischen Straßenbahn ankündigt. Dann musst du nämlich bereit sein, denn alle anderen sind es auch. Du musst zur Tür, aussteigen lassen und dir einen Platz sichern, einen Platz im Leben. Nicht jeder wird sitzen können, nur ist die Frage, ob du jemand sein möchtest, der steht, oder vielmehr moralischer Natur gestapelt bist und dann niemand sein kannst, der sitzt, während andere stehen. Früher standest du öfter, aber irgendwann änderte sich ja alles. Und dann kamen die typischen Du-hast-dich-verändert-Sätze. Nein, das hast du nicht, vielmehr hast du dich entwickelt. Ja aber. Nein, kein "Ja aber". Du magst diese Ja-aber-Sätze nicht. Sie sind leer, nichtssagend. Du hast dich entwickelt und das ist auch gut so. Vielleicht hast du Opfer gebracht, das mag sein. Aber wenn du zurückschaust, merkst du, wie sich von dir gebrochene Herzen ebenso geändert haben, von dir verlassene Menschen und von dir gemachte Fehler zu etwas besserem führten, als wenn du die Fehler nicht hättest gemacht. Sie alle haben sich auch entwickelt, genau wie du. Vielleicht aus demselben Grund wie du.
Nun, da du beruhigt aus der Bahn steigen kannst, weil du gemerkt hast, dass du manchmal stehen und manchmal sitzen wirst, weil du gemerkt hast, dass manchmal andere sitzen und andere stehen und stehen gelassen werden von dir, so kannst du tief durchatmen. Durchatmen und verzeihen. Mitleid und Verzeihung sind eine Gabe Gottes. Das ist, was dich zum Menschen macht, so nimmst du dir vor, heute Abend einmal früher schlafen zu gehen. Morgen bist du nicht mehr so müde und so ist dir dein Sitzplatz egal. Wenn du also abends wieder nach Hause kommst, legst du dein Smartphone weg und nimmst den Wecker, den du heute gekauft hast, der vielleicht neuer und moderner ist, als der Wecker den du damals hattest, aber doch am ehesten an deine Kindheit erinnert, und stellst ihn auf die richtige Uhrzeit. Es spielt keine Rolle mehr, ob du müde sein wirst, denn irgendwann wird ein Morgen kommen, an dem du sowieso müde sein wirst, also schlag' das Wasser in dein schläfriges Gesicht und sehe endlich deine ersten Falten, bevor du wieder an Busse, Bahnen, deine Änderung oder die Vergangenheit denkst.
Versuche Farbe in deine Pupillen zu mischen und sehe endlich, was du damals schon nicht sahst, mit deinem leeren Blick: Es liegt nicht an dir. Es ist dieser grelle Ton. Dieser Wecker. Also dein Smartphone, das so ertönt, bevor du es mit einem Wischen abschaltest oder auf Später verschiebst. Es war nie anders, dieses Aufwachen im Morgengrauen.

Das Leben des Bettlers

So lange. So lange liege ich hier schon vergraben. Es kommt mir wirklich vor, als sei eine viertel Ewigkeit vergangen. Aber das ist in Ordnung, denn das wirklich Traurige ist, dass ich mich selbst hier vergrub. Zu meinem Haupt ist ein stabiler Holzpfeiler – es sind sogar mehrere, sie umkreisen mich förmlich. Ich habe meine Ruhe gefunden, denn es ist bequem hier und die meiste Zeit bin ich sorglos. "Was passiert nach dem Tod?", hatten mich die Leute oft gefragt. Ich kann ihnen leider nicht mehr antworten. Es ist zu gemütlich hier. Vergraben in meiner Decke. Mein Bett besteht übrigens aus einem Holzgerüst und die Matratze ist so weich, dass das Wort 'Gemütlichkeit' wohl zu grob ist, um sein tatsächliches Wesen zu beschreiben. Ich wusste keine Antwort auf die Frage nach dem Tod und ich weiß sie immer noch nicht. Ich weiß aber, dass ich mein Bett nie wieder verlassen werde.
Ich bleibe hier, obwohl meine Füße aus der Decke schauen und dieses Bett für meine Verhältnisse, viel zu klein ist. Ich ziehe die Decke über meinen Kopf und verstecke mich. Manchmal sieht man von außen nur mein Gesicht und meine Finger, die behutsam die Decke festhalten. Ich bleibe stundenlang unbeweglich oder versuche eine bequemere Position als die jeweils vorherige zu finden. Ich war nicht immer so; ich war ein fröhliches Kind, immer am Spielen. Die meiste Zeit meiner Kindheit habe ich nämlich draußen im Freien verbracht. In Gärten und Feldern und an einem Teich oder auf der Straße mit anderen Kindern. Ich erinnere mich an die Worte der Mutter, als ich einmal bis in die Nachtstunden gespielt hatte: "Wenn du noch einmal so spät nach Hause kommst, dann kannst du draußen bleiben". Sie hatte ihre Sorgen in Worte gefasst und ausgespuckt. Aber das sind alles vage Erinnerungen, völlig verschwommen eigentlich.
"Wie geht es dir? Fühlst du dich wohler? Ich habe deine Schwester gefragt, ob sie dir eine Suppe macht. Hoffentlich pfeffert sie die Suppe ein wenig, genau nach unserem Geschmack!", sagte sie. Sie hatte sich dabei bereits ans Bett gesetzt und drehte ihre Haare um das Wasser hinauszupressen.
"Es geht mir wie jeher, besser nun, wo du hier bist. Es überrascht mich – ich dachte du kommst erst am Montag. Das letzte Mal als ich dich gesehen habe, warst du da unten, hast mit meinem Vater geredet. Du warst wunderschön wie heute. Wahrlich, deiner Schönheit bin ich nicht würdig!", sagte ich, während sie mich mit großen Augen ansah. Wie aus den Gedanken gerissen, musste ich verblüfft geschaut haben, als sie mir einen Löffel mit der Suppe hinhielt, den ich natürlich sofort in den Mund nahm. Ich kauerte vor Schmerz zusammen und konnte nicht schlucken. Den Schmerz in meinem Mund konnte ich mir nicht erklären, denn die Suppe war zu heiß und zu scharf und so kam es dass meine Zunge schmerzte und taub war, mein Rachen brannte als wäre der Löffel aus dem Schmelzofen herausgezogen. War es die Hitze oder die Schärfe? Das würde ich herausfinden, wenn die Suppe abgekühlt war.
"Ich puste für dich", sagte sie mir und pustete die Suppe an, dabei schlürfte sie auch ein wenig davon und gab mir erneut den Löffel. Aber auch dieser Löffel war, was Hitze und Schärfe angeht, genau wie der vorherige. So kam es, dass sie beim nächsten Löffel immer zuerst alles selber in den Mund nahm und zurück auf den Löffel ausspuckte. Es wurde zwar besser, aber ich hasste wenn meine Suppe scharf war und den Großteil der Suppe hatte sie am Ende ausgelöffelt.
Als es klopfte, wusste ich, schlimme Dinge würden passieren. Ich, der nicht unbedingt die Türe hätte öffnen können, konnte nur zusehen – vielleicht zitternd, vielleicht rasend – wie er sie packte und über seine Schulter warf. Dabei sah er mich an, ängstlich genug, als würde ich mich gleich in einen Wolf verwandeln und ihn schnappen, mutig genug, ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken zu können. Meine Verlobte war dabei völlig wehrlos und drehte sich nicht einmal nach mir. Der junge Mann hatte sich fest an die Hinterseite ihrer Schenkel geklammert und tat ihr ohne Zweifel weh. Mit einem Schlag, war die Türe geschlossen. Der Tag des Besuches fand hier sein Ende.
Ich wollte seitdem weniger raus, als ich überhaupt raus ging. Denn es ist geschrieben im Naturbuch der Gesetze, dass ein Regenwurm, der sich bei Regen auf die Straße wirft, nicht lange zu leben hat. Ehe er sich versieht und sein angeblich angenehmes Nass durch die Sonne austrocknet – wenn er nicht bereits niedergetreten wurde – ist er am luftschnappen und husten. Er bemerkt seinen Fehler wenn es bereits zu spät ist, der aber laut Naturbuch unverzeihlich ist. Ich blättere also ein wenig in diesem Buch und sehe, die Strafe ist ungemildert der Tod.

[…]

Ich habe mir Insekten als Freunde gesucht, die, aus leider mir unerfindlichen Gründen, ein verhältnismäßig kurzes Leben führen. So kommt es vor, dass ich manchmal meinen besten Freund verliere und mir dann einen neuen suchen muss, was zugegeben, nicht schwer ist, aber schade.

[…]

Ich schauspielere auch gerne um mir die Zeit zu vertreiben. Nicht selten spiele ich mein Lieblingsstück. Da ich alleine bin, muss ich in Doppelrollen schlüpfen. Ich bin Richter und Henker. Immer wieder diskutieren die beiden wild miteinander und manchmal ist es sogar Geschrei. Nach einer kurzen Redepause aber, beginnt einer von beiden wieder zu murmeln und die beiden einigen sich. Nur die Rolle des Angeklagten kann ich nicht spielen. Diese Rolle übernimmt dann meine Schwester. Sie tritt hin und wieder ins Zimmer, aber ihre Rolle ist auch nicht so angelegt, dass sie immer dabei sein muss. Das wichtigste sind die Diskussionen zwischen Richter und Henker. Wenn sie dann reinkommt frage ich sie, im Namen des Richters der im Namen des Gesetzes spricht: "Haben sie noch ein paar letzte Worte vor ihrem Todesurteil"?

Die Wildgans

Als sie einmal in eine Böe geriet und wildflatternd niederfiel, da waren sie schon da, starrend mit großen Augen.

Vom Himmel gefallen, ein Wunder ist geschehen.

Aber nein, ich bin kein Wunder, ich bin nur ein Vogel wie ihr.

So sag' uns, was ist passiert?

Fliegen kann ich, nur bin ich verletzt, ich fiel.

Fliegen? Was ist das?

Du schlägst die Flügel und erhebst dich in die Lüfte, drehst Formationen und gehst in den Süden.

Fliegen? Nein, das können wir nicht, ebenso du nicht.

Doch! Seht nur her. Und sie flatterte und schlug und fiel auf den Mist der anderen.

Gewöhn' dich besser an das Leben in der Farm, setz' dich und ruh' dich aus, dann komm' mit uns die Gräser reißen und werde satt.

Fliegen kann ich! So bin ich gekommen und so möchte ich gehen. Lernt es und fliegt mit mir.

Unter dem Gespött der anderen aber, blieb sie lange in der Gänsefarm. Ob sie jemals davon flog oder den Bodenvögeln ähnlich wurde bleibt offen. Dass über die anderen hätte gespottet werden müssen, das jedoch ist offenkundig.