Das Leben des Bettlers

So lange. So lange liege ich hier schon vergraben. Es kommt mir wirklich vor, als sei eine viertel Ewigkeit vergangen. Aber das ist in Ordnung, denn das wirklich Traurige ist, dass ich mich selbst hier vergrub. Zu meinem Haupt ist ein stabiler Holzpfeiler – es sind sogar mehrere, sie umkreisen mich förmlich. Ich habe meine Ruhe gefunden, denn es ist bequem hier und die meiste Zeit bin ich sorglos. "Was passiert nach dem Tod?", hatten mich die Leute oft gefragt. Ich kann ihnen leider nicht mehr antworten. Es ist zu gemütlich hier. Vergraben in meiner Decke. Mein Bett besteht übrigens aus einem Holzgerüst und die Matratze ist so weich, dass das Wort 'Gemütlichkeit' wohl zu grob ist, um sein tatsächliches Wesen zu beschreiben. Ich wusste keine Antwort auf die Frage nach dem Tod und ich weiß sie immer noch nicht. Ich weiß aber, dass ich mein Bett nie wieder verlassen werde.
Ich bleibe hier, obwohl meine Füße aus der Decke schauen und dieses Bett für meine Verhältnisse, viel zu klein ist. Ich ziehe die Decke über meinen Kopf und verstecke mich. Manchmal sieht man von außen nur mein Gesicht und meine Finger, die behutsam die Decke festhalten. Ich bleibe stundenlang unbeweglich oder versuche eine bequemere Position als die jeweils vorherige zu finden. Ich war nicht immer so; ich war ein fröhliches Kind, immer am Spielen. Die meiste Zeit meiner Kindheit habe ich nämlich draußen im Freien verbracht. In Gärten und Feldern und an einem Teich oder auf der Straße mit anderen Kindern. Ich erinnere mich an die Worte der Mutter, als ich einmal bis in die Nachtstunden gespielt hatte: "Wenn du noch einmal so spät nach Hause kommst, dann kannst du draußen bleiben". Sie hatte ihre Sorgen in Worte gefasst und ausgespuckt. Aber das sind alles vage Erinnerungen, völlig verschwommen eigentlich.
"Wie geht es dir? Fühlst du dich wohler? Ich habe deine Schwester gefragt, ob sie dir eine Suppe macht. Hoffentlich pfeffert sie die Suppe ein wenig, genau nach unserem Geschmack!", sagte sie. Sie hatte sich dabei bereits ans Bett gesetzt und drehte ihre Haare um das Wasser hinauszupressen.
"Es geht mir wie jeher, besser nun, wo du hier bist. Es überrascht mich – ich dachte du kommst erst am Montag. Das letzte Mal als ich dich gesehen habe, warst du da unten, hast mit meinem Vater geredet. Du warst wunderschön wie heute. Wahrlich, deiner Schönheit bin ich nicht würdig!", sagte ich, während sie mich mit großen Augen ansah. Wie aus den Gedanken gerissen, musste ich verblüfft geschaut haben, als sie mir einen Löffel mit der Suppe hinhielt, den ich natürlich sofort in den Mund nahm. Ich kauerte vor Schmerz zusammen und konnte nicht schlucken. Den Schmerz in meinem Mund konnte ich mir nicht erklären, denn die Suppe war zu heiß und zu scharf und so kam es dass meine Zunge schmerzte und taub war, mein Rachen brannte als wäre der Löffel aus dem Schmelzofen herausgezogen. War es die Hitze oder die Schärfe? Das würde ich herausfinden, wenn die Suppe abgekühlt war.
"Ich puste für dich", sagte sie mir und pustete die Suppe an, dabei schlürfte sie auch ein wenig davon und gab mir erneut den Löffel. Aber auch dieser Löffel war, was Hitze und Schärfe angeht, genau wie der vorherige. So kam es, dass sie beim nächsten Löffel immer zuerst alles selber in den Mund nahm und zurück auf den Löffel ausspuckte. Es wurde zwar besser, aber ich hasste wenn meine Suppe scharf war und den Großteil der Suppe hatte sie am Ende ausgelöffelt.
Als es klopfte, wusste ich, schlimme Dinge würden passieren. Ich, der nicht unbedingt die Türe hätte öffnen können, konnte nur zusehen – vielleicht zitternd, vielleicht rasend – wie er sie packte und über seine Schulter warf. Dabei sah er mich an, ängstlich genug, als würde ich mich gleich in einen Wolf verwandeln und ihn schnappen, mutig genug, ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken zu können. Meine Verlobte war dabei völlig wehrlos und drehte sich nicht einmal nach mir. Der junge Mann hatte sich fest an die Hinterseite ihrer Schenkel geklammert und tat ihr ohne Zweifel weh. Mit einem Schlag, war die Türe geschlossen. Der Tag des Besuches fand hier sein Ende.
Ich wollte seitdem weniger raus, als ich überhaupt raus ging. Denn es ist geschrieben im Naturbuch der Gesetze, dass ein Regenwurm, der sich bei Regen auf die Straße wirft, nicht lange zu leben hat. Ehe er sich versieht und sein angeblich angenehmes Nass durch die Sonne austrocknet – wenn er nicht bereits niedergetreten wurde – ist er am luftschnappen und husten. Er bemerkt seinen Fehler wenn es bereits zu spät ist, der aber laut Naturbuch unverzeihlich ist. Ich blättere also ein wenig in diesem Buch und sehe, die Strafe ist ungemildert der Tod.

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Ich habe mir Insekten als Freunde gesucht, die, aus leider mir unerfindlichen Gründen, ein verhältnismäßig kurzes Leben führen. So kommt es vor, dass ich manchmal meinen besten Freund verliere und mir dann einen neuen suchen muss, was zugegeben, nicht schwer ist, aber schade.

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Ich schauspielere auch gerne um mir die Zeit zu vertreiben. Nicht selten spiele ich mein Lieblingsstück. Da ich alleine bin, muss ich in Doppelrollen schlüpfen. Ich bin Richter und Henker. Immer wieder diskutieren die beiden wild miteinander und manchmal ist es sogar Geschrei. Nach einer kurzen Redepause aber, beginnt einer von beiden wieder zu murmeln und die beiden einigen sich. Nur die Rolle des Angeklagten kann ich nicht spielen. Diese Rolle übernimmt dann meine Schwester. Sie tritt hin und wieder ins Zimmer, aber ihre Rolle ist auch nicht so angelegt, dass sie immer dabei sein muss. Das wichtigste sind die Diskussionen zwischen Richter und Henker. Wenn sie dann reinkommt frage ich sie, im Namen des Richters der im Namen des Gesetzes spricht: "Haben sie noch ein paar letzte Worte vor ihrem Todesurteil"?