Die Abholung

Eine wunderschöne hoffnungsvolle Frau. Sie war jung und in ihren besten Jahren. Niemals hätte die alte Frau Mauerblume, die am Fenster gegenüber zu ihr runterstarrte, gedacht, dass ein so junges unschuldiges Mädchen um diese Uhrzeit noch draußen am Straßenrand wartete.
Dumpforangene Lichter verliehen der Straße einen mysteriösen Hauch. Das Fräulein öffnete ihre Augen weit, als ein Licht näher kam. Dann hielt der Wagen direkt vor ihr an.
Ein Mann, etwa in ihrem Alter, sah sie eine gefühlte Weile an. Dann grüßte er: "Guten Abend, Fräulein."
Sie sah noch einmal zum Fenster der Frau Mauerblume auf und antwortete dann: "Guten Abend, sind Sie der Fahrer des Wagens der mich abholen soll?"
Der Mann hob verwundert die Augenbrauen und stülpte seine Unterlippe über die Oberlippe. Dann verwandelte sich sein Gesicht in ein lächelndes, "ich weiß nicht, aber möchten sie nicht in den Wagen"?
 Das junge Fräulein, sichtlich verwirrt, stieg in den Wagen.
"Es sollte ein Wagen kommen und mich abholen, genau zu dieser Stunde, aber jetzt sind sie da, deshalb habe ich gefragt ob Sie das nicht vielleicht sein könnten", erklärte das Fräulein, um nicht wie eine Verrückte dazustehen.
"So", runzelte der Mann sich die Stirn, "nun, ich weiß nicht, ob ich diese Person bin, die in dem Wagen sitzen soll, der sie abholt".
"Naja, eigentlich ist die Antwort doch ganz einfach, Sie müssen mir nur sagen, ob Sie den Auftrag hatten, zu dieser Stunde, an diesem Ort, ein Fräulein abzuholen".
Der Mann hob wieder die Augenbauen, "ich glaube", dann zögerte er kurz und sah zum Fenster der alten Frau Mauerblume hoch, "ganz so einfach ist das nicht".
Das Fräulein antwortete gelassen, aber ein leiser Ton von Protest war unverkennbar: "Ich verstehe nicht ganz, was das Problem sein soll. Es geht nur um die Bestimmung, ob sie der Wagen sind, auf den ich gewartet habe!"
"Wie ich schon sagte", wiederholte sich der Mann, "ganz so einfach ist das nicht".
Das Fräulein wollte ihre Gereiztheit darauf, keine richtige Antwort erhalten zu haben, hervorheben. Dann aber dachte sie, dass sie vielleicht nicht damenhaft genug gefragt hatte. "Wieso, Herr Abholer, ist das Problem nicht so einfach? Können Sie mir das sagen?"

Der Mann schaute sie entsetzt an, "wir Menschen urteilen doch viel zu schnell, finden sie nicht?"
Die Frage des Fräuleins war immer noch unbeantwortet, "wieso können sie nicht einfach auf meine Frage antworten"?
Der Mann schaute auf die Straße: "Wir geraten mehr und mehr in ein Meer der Fragen, deren Antwort, die nunmal auf sich warten lassen möchte, nur noch mehr Fragen aufwirft. Die Beantwortung einzelner Fragen wird demnach immer schwieriger. Warum ich so entsetzt bin? Das wiederum ist einfach zu beantworten. Sie nennen mich 'Herr Abholer', obwohl Sie nicht wissen, ob ich der Abholer bin. Deshalb habe ich auch eben, das mit dem Urteilen gesagt."
Das Fräulein war wieder erregt, fragte dann: "Wie soll ich sie denn nennen, wenn Sie nicht sagen, wer sie sind und ich davon ausgehen muss, dass Sie irgendwer sind? In diesem Fall, habe ich sie Abholer genannt. Ich habe keine einzige Frage beantwortet bekommen, deshalb erfand ich mir Antworten und stellte die nächsten Fragen."
Der Mann hatte schon fast aufgegeben, "schon wieder haben sie eine Frage gestellt, vielleicht sollte ich ihnen auch sagen, dass ihre erfundenen Antworten, nur ein Abbild dessen sind, was Sie gerne zur Antwort hätten. Ich habe mich nicht vorgestellt, weil sie nicht direkt nach meiner Person gefragt haben, sondern eher danach, ob ich der Abholer sei. Sie bauen sich ein Bild der Weltgeschichte auf, das so nicht stimmen kann. Und wenn es doch stimmt, dann vielleicht zufällig".
Das Fräulein versuchte sich abzuregen und dem Gespräch noch eine letzte Möglichkeit zu geben, ein sinnvolles Ergebnis zustande zu bringen. Sie strich sich die Haare hinter ihr Ohr, lächelte noch einmal so nett sie konnte und sah den Mann an: "Also gut, Herr Abholer, und ich nenne Sie nur so, weil ich mir dieses Bild von ihnen aufgebaut habe. Wie hätte ich denn ihrer Meinung nach vorgehen sollen, da sie, wie es scheint, alles besser wissen? Und dazu noch in der Machtposition stehen, die Sie durch einen dummen Zufall erhalten haben."
Der Mann lachte kurz, natürlich wusste er, dass das junge Fräulein gereizt war. Er wollte aber nicht Klarheit geben, sondern nur tiefer in die Wunde drücken. Dies, teils aus seinen Prinzipien, die eben sagten, das Falsches und Unvollständiges keine Bedeutung hatte, teils aus dem Grund, dass das Fräulein sehr attraktiv war und er selten längere Gespräche mit Frauen wie diesen hatte. Dann auch noch in einer solchen Machtposition. Er zügelte sich jedoch, zumal er die Rolle des Abholers gut besetzen wollte: "Sie haben mir wieder eine Frage gestellt, wieder sind Sie wider meiner Prinzipien auf mich zugegangen, als sei ich 'Herr Abholer'. Alles was Sie tun, ist wider Logik und wider meiner Lust, Ihnen überhaupt noch etwas zu verraten. Aber gut, lassen Sie mich das Problem aus einer sachlichen Lage beantworten. Nämlich aus der, der Frau am Fenster, die uns lange schon beobachtet. Aus ihrer Sicht bin ich jedenfalls der Abholer, finden sie nicht? Ich könnte es auch nicht sein, aber das Einsteigen ihrerseits in den Wagen, ohne sicher zu sein, dass ich der Abholer war, hat dieser Frau so gut wie versichert, dass ich der Abholer bin. So ist es möglicherweise nur eine Frage der Perspektive, ob ich der Abholer bin oder nicht. Vielleicht sind ja sie der Abholer? In einer anderen Sichtweise. Jedoch, da ich nicht so sein will und nun über die Philosophie des Abholens reden möchte, will ich ihnen die Beantwortung der Frage, um ein vielfaches erleichtern, auch wenn ich sie nicht beantworten werde. Die Wahrheit ist, ich weiß nicht, ob ich der Abholer bin".
Die Frau war erst verwundert und wusste nicht was sie sagen sollte. Dann aber begann sie zu verstehen, dass sich der Mann wahrscheinlich lustig über sie machen wollte und antwortete entschlossener als zuvor: "Nun eigentlich ist das ganz einfach. Sie müssen lediglich sagen, ob sie den Auftrag hatten, mich abzuholen".
Schon erwidertete der Mann, "dazu muss man das Wesen eines Auftrages -". Er wurde jedoch unterbrochen von der nun selbstsicheren Frau, die seinen Satz fortführte, "dazu muss man das Wesen eines Auftrages betrachten, richtig? Ein Auftrag kann vom Leben oder einer gewöhnlichen Person gegeben worden sein. In diesem Fall möchten sie sagen, dass ihr Auftrag durch das Leben gegeben ist. Deshalb können sie auch nicht direkt sagen, ob es überhaupt ein Auftrag ist. Der Auftraggeber ist so unbestimmt, dass sie mir keine vernünftige Antwort geben können."
"Genau so ist es", sagte der Abholer, "und es liegt keinerlei Absurdität in dieser Vorstellung, denn je nach philosophischer Sichtweise, ist mein Auftraggeber letztendlich sowieso das Leben. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich einen menschlichen Vertreter erwählt hat um mir dies mitzuteilen."
Er sah das Fräulein lächelnd an. "Sie sind müde?", fragte diese, als mache sie sich Sorgen um ihn. Sie glaubte immer mehr der nicht bestätigten Tatsache, dass dieser Mann, wirklich der Abholer sein könnte.
Er gähnte unterdessen und sagte dabei: "Nein, nein", sein erstes Nein aber war durch das Gähnen kaum verständlich,"ich bin wach, hellwach."
Nun grinste die Frau, als hätte sie einen Sieg davongetragen. Sie hatte nämlich den Mann dabei erwischt, wie er die Beantwortung einer Frage verfälscht hatte: "Ich habe sie gefragt, ob sie müde sind, nicht ob sie schlafen."
Der Mann lächelte wieder und dabei unterdrückte ein weiteres Gähnen.
"Wenn", sagte er, "ich der Abholer bin", und er machte deutlich, eine beende Aussage treffen zu wollen, "dann sind Sie die Abgeholte, richtig? Aber was spielt es für eine Rolle, ob ich der Abholer bin oder nicht, wenn sie es so sehen? Möglicherweise bin ich ein Lügner und sie sind jemand, die Lügen in Wahrheiten verwandelt, indem sie ihnen glaubt. Aber dies tun sie bewusst, fast, als seien sie bewusst naiv. Wenn man es ganz streng nimmt, haben wir uns eine kleine Welt geformt, wie wir sie gerne hätten. Die alte Frau am Fenster hat sich eine ganz andere gebaut, falls sie aber die selbe Welt geformt hat, dann waren wir entweder zu offensichtlich oder die Frau hat einen messerscharfen Verstand".
Die junge Frau hob die Augenbrauen und stülpte die Unterlippe über die Oberlippe, dann verwandelte sich ihr Gesicht in ein lächelndes: "Vielleicht ist all das wahr. Vielleicht aber, habe ich keinen blassen Schimmer von alledem, was sie hier reden und vertraue ihnen auch kein Bisschen".
Sie lehnte ihren Kopf auf seine Schulter. Er wiederum fühlte sich erstmals bestätigt und antwortete: "Endlich bewegen wir uns auf derselben Ebene", streichelte daraufhin ihren Kopf und sah nach, ob die alte Frau Mauerblume, das mittlerweile romantische Treffen, die Abholung, beobachte.
Plötzlich ratterte ein anderer Wagen gleich neben ihnen. Er hielt kurz an und rauschte dann weiter.

Es war eine Stunde vergangen, seit die junge Frau in den Wagen gestiegen war. Eine Stunde hatten die beiden miteinander geredet und Zeit verbracht. Er sah nach der jungen Frau, die müde ihre Augen geschlossen hatte und mit den Händen, seine Jacke festhielt.
"Ist etwas?", fragte sie. Er wollte natürlich nicht sagen, dass gerade ein anderer Wagen vorbeigefahren war, den sie nicht bemerkt hatte. Es war nämlich nicht ausgeschlossen, dass dieser Wagen dem wirklichen Abholer gehören könnte.
Zumal man zu der Verteidigung des Mannes sagen musste, dass dieser vermeintliche Abholer eine Stunde später kam, als offenbar mit der Frau abgemacht. Deshalb konnte das auch ein Zufall gewesen sein, wie der Zufall, der ihn hierher her brachte. Und trotzdem, konnte niemand beweisen oder widerlegen, das er nicht der Abholer war.
"Es ist nichts", sagte er beruhigend und streichelte weiter ihren Kopf, bevor die beiden nach einer Weile losfuhren und lange nichts mehr war, außer dass die alte Frau Mauerblume am Fenster. So starr, dass man von ihr behaupten könnte, sie sei nur der Schatten einer Vase mit Blumen darin, die so ungeschickt hingestellt worden war, dass Sie den Formen eines Menschen sehr ähnelten.