Der Werwolf

Es war eine kleine Hütte, in der Wolfgang seine Nacht verbringen wollte. Zumindest dachte er das, als er zwischen Gebüsch und Bäumen das mehrstöckige Holzhaus nicht vollständig erkannte. Er hatte lediglich die Lichter am Fenster gesehen und gedacht, es war ein kleines Häuschen und umso froher war der junge Reisende dann, als sich herausstellte, dass es sich um eine Herberge handelte. Die Nacht war recht hell, im Schein eines schönen Mondes, schimmerten die Blätter dunstig und verliehen Wolfgang eine Kraftlosigkeit - keine schlechte, sondern eine gemütliche. So würde er sicher besser schlafen, wenn er gleich in die Stube eintrat, bezahlte, und sich dann auf sein Federbett warf. Doch wie so oft im Leben, läuft nicht alles nach Plan - eigentlich läuft gar nichts nach Plan: Als er eintrat und die Frau links an der Theke ansprach, bekam er nur eine stumpfe Antwort, es sei kein Zimmer mehr frei, als Wolfgang einwenden wollte erwiderte sie gleich: Nein, auch der Keller ist voll. So, Wolfgang hob die Augenbrauen, es ist wirklich nichts frei? Nein, alles ist besetzt, die Frau kramte dabei in irgendwelchen alten Papieren herum, auf denen unleserliche Handschriften zu sehen waren. Dann muss das Schild draußen abgehängt werden, protestierte Wolfgang, Warum denn, war die Antwort. Es sagt es sei eine Herberge hier, Sind wir doch, Nein, so verspüre ich das nicht, Und doch sind wir eine Herberge. Die Frau war völlig sachlich geblieben, Wolfgang dagegen seufzte aus Ärger vor der Situation, Und was soll ich jetzt tun? Finden sie eine andere Herberge.
Es trat ein älterer Herr mit Vollbart dazu, Was ist denn los, was soll die Unruhe? Der junge Herr möchte nicht verstehen, dass das eine Herberge ist, Nein, Moment, das habe ich verstanden, es geht mir nur darum, dass hier kein Schlafplatz ist! Sechs Herbergen gibt es im Osten, Ich kommen von Östlich, aber diese hier habe ich mir ausgesucht! Nun kam der alte Mann zu Wort, Er kann jetzt nicht zurück, Töchterchen, es ist Vollmond heute, Ich weiß, und Brüderchen ist nicht zurück, Soll er bleiben wo er ist, der alte Hund. Als Wolfgang räusperte um die kleine Zwischenunterhaltung zu unterbrechen und die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, drehten sich Vater und Tochter mit großen Augen zu ihm. Jedenfalls ihr Schlafplatz, junger Herr, so der Mann wieder, wird dann wohl hier unten mit mir sein, Meinen sie hier, am Kamin? Jawohl, kommen sie, kommen sie, hier ist warme Milch und das ist mein Rundtisch. Es waren ein paar weitere alte Herren am Tisch, vermutlich war der Mann der Besitzer der Herberge und diese Leute waren seine Freunde, die Herberge musste so voll sein, dass weder er ein eigenes Zimmer hatte, noch seinen Freunden eins übrig geblieben war.
Ist das ihre Tochter an der Theke, Ja, sie ist eine gute Empfängerin, Wolfgang wollte nicht frech sein, zumal der Mann sehr freundlich zu ihm war und deshalb nickte er nur und fragte dann, Wo schlafen wir? Na, hier unten, ich packe den Tisch gleich weg, aber nun zu ihnen, wer sind sie, woher kommen sie, Ja, wer in Teufels Namen sind sie, dass sie nachts bei Vollmond hier aufkreuzen können, meldete sich einer der Freunde des alten Mannes, sie waren alle am eben benannten Rundtisch und tranken Bier. Ist das Bier? Nein, ist Apfelschorle, lachte der Freund laut. Nun, trinken sie erstmal die Milch, das öffnet den Knoten der Zunge und wärmt den Hals vorm Schlafengehen, so wieder alte Mann, der ihn zu Tisch eingeladen hatte. Wolfgang trank nicht, sondern ließ den Kopf auf seine verschränkten Arme fallen, erst jetzt bemerkte er, wie niedrig der Tisch war. Nun wenn der Junge nicht reden will und meine Frage, wer er denn sei, nicht beantworten kann, erzähle ich da weiter, wo wir aufgehört haben, Freunde. Wolfgang war so müde, dass er kurz vor dem Einschlafen war, als der Mann begann zu erzählen, da seine Stimme aber recht krächzend war, verstand er jedes Wort. Und dann bin ich, und dann bin ich, und dann hier, und da, und hier. Wolfgang sah ein, dass das Einschlafen der Unmöglichkeit nahe war und griff deshalb nach der Milch, der Kopf war bis er das warme Glas zu sich gezogen hatte, immer noch auf den Armen. Erst reckend und streckend, wie als wäre er wirklich eingeschlafen, hob er den Kopf und starrte kurz in die Leere, bevor er das große Bierglas an den Mund hielt.
Für eine Herberge war das Haus doch ziemlich klein, das erklärte seine Verwechslung. Die Fenster waren in der Höhe des Kopfes eines Menschen - klein und schmal, sie waren geschmückt mit Blümchen, aber die Blütenblätter waren braun. So eine Blumenart kannte er nicht, aber sonderlich schön war sie auch nicht, das spiegelte sich aber auch in den Menschen hier wider, beginnend von dem Töchterchen bis hin zu dem Mann, der ihn krampfhaft nach seinem Namen gefragt hatte. Na gut, der Vater des Thekenmädchens war freundlich genug einen Schlafplatz anzubieten und ihn nicht gen Osten zu schicken, aber letztlich wollte er mit ihm am Kamin schlafen, und das konnte nur naive oder absolut hinterhältige Freundlichkeit sein. Als er sich jetzt im Raum umsah wurde ihm langsam klar in was für einer Bruchbude er gelandet war. Der gesamte Raum war - wie die Außenwände selbst - aus dunklem, fast schwarzem Holz. Es gab einige kleine Tische und eine Bar die teilweise für die Buchungen gedacht war - dort wo das Töchterchen stand. Die Wände an der Theke waren voll mit Flaschen, aber es waren eher kleine Medizinfläschchen, und hin und wieder waren Papierrollen oder Kannen im Regal. Dieser Teil des Raumes war der voll, ansonsten gab es an der Wand einige schlechte Gemälde, außerdem gab es ein Hirschskopf über dem Kamin. Der Rundtisch war dem Kamin am nächsten. Dann gab es noch Treppen die ins dunkle Nichts führten, in der Ecke des Raumes an der selben Kante wie der Eingang und die Theke. Eine Treppe führte nach unten und eine andere nach oben.
Werwolf. Das war das entscheidende Wort gewesen um Wolfgangs Aufmerksamkeit zu beziehen. Wie bitte, was? Ja, dann hat er den Werwolf gesehen, Welchen Werwolf, Na, den, von dem ich die ganze Zeit spreche, das Ungeheuer, das Biest. Wolfgang und der Mann der schon die ganze Zeit unentwegt geredet haben musste und Wolfgangs Namen hatte erfahren wollen, sahen sich eine Weile an. Dann trank Wolfgang frech einen Schluck Milch und lächelte, Na gut, erzähle nochmal, ich bin übrigens ein Reisender, Wolfgang der Name. Junger Mann, du hast Glück, dass ich die Geschichte so mag, sonst würde ich nicht nochmal erzählen, ich tue es nicht für dich. Also, das ist letztlich passiert, ein schlimmer Verlust war das, grauenhafter Vorfall, Unfall! Es war eine Vollmondnacht wie diese und das Ungeheuer war einen Kopf größer als er, er ist, naja, ein alter Freund, er war ein alter Freund, so nennen wir ihn mal. Ich weiß nicht, wer oder was ihm das angetan hat, aber sein Bruder war auch dabei als es passierte und der hat es überlebt. Ich glaube ja, es war ein Werwolf und ich verlasse die Herberge heute nicht, nicht bei Vollmond. So, So, Ein Werwolf? Ja, ein Werwolf, Glaubt ihr ihm? Einige unsichere Stimmen begannen sich zu beraten, Ja, sie glauben mir, natürlich glauben sie mir, was sonst, kann einen Menschen so entstellen, Ein Braunbär? Wolfgang grinste. Du hältst dich wohl für witzig, Junge, wenn mein guter alter Freund hier, dich nicht zum Rundtisch geladen hätte - du wärst da draußen der Bestie ausgeliefert. Wie das Brüderchen, hörte man eine andere krächzenden Stimme noch sagen, fast echoartig. Dann trat eine kleine Weile Stille ein. Eine interessante Lage in die du dich gebracht hast, sagte Wolfgang sich selbst. Er war in eine provokative und belustigte Stimmung entstanden und so fragte er in die Runde, Na, was ist denn ein Werwolf? Du weißt nicht was ein Werwolf ist? Naja, ich glaube zumindest nicht, dass es Werwölfe gibt, deshalb frage ich, Du kommst weit vom Osten her, gibt's wohl keine Werwölfe, was? Nein, ich habe noch nie einen gesehen, Na, wir ja auch nicht, Wieso glaubt ihr dann an Werwölfe, Weil wir einen Toten und einen Verletzten haben, zwei Brüder, glaubst du, das passiert einfach so an Vollmond? Ich weiß nicht wieso das passiert, Na, der Kerl dessen Bruder getötet worden war, konnte das Ungeheuer mit einem Schuss seiner Schrotflinte mit Silberkugeln vertreiben, aber da war er schon halb zerissen, ich kenne die Geschichte nicht ganz, ich erzähle nur die Einzelheiten, an die ich mich erinnere, aber wenn du willst - oben ist der Kerl mit zerfleischten Armen und Beinen und gebrochenen Rippen -, kannst du ihn ja fragen, wie das Ding aussah und was es ist. Das hier, - er legte eine silberne Schere auf den Tisch - ist das einzige, womit wir ihn heute töten können. Wolfgang trank die Milch zu Ende, mit was für leichtgläubigen Menschen er doch in einem Raum war! Wieder Stille die er aber unterbrach, Und jetzt sperren wir uns hier ein, es muss doch ein Dorf geben, Ja, wir sind alle aus dem Dorf, wir sind alle hier, oben schlafen unsere Familien, Kinder und Frauen - alle. Ihr habt euch alle hier versteckt? Ja, bis die Nacht vorbei ist, dann gehen wir zurück in das Dorf, jeder in sein Haus. Der Wirt nahm Wolfgang den Becher ab und brachte ihn hinter die Bar, dort waren lauter Becher und Gläser, die man wohl in der Morgenfrühe am Brunnen spülen wollte. Kein Wunder ist die Herberge voll, Ja, deshalb schlafen wir hier unten. Schon wieder Stille.
Der alte Wirt lächelte jetzt, Es freuen sich alle auf Vollmond, vor allem die jungen Leute, die haben ja ihre eigenen Zimmer - ihr eigenes Stockwerk, die Kinder sind bei ihren Müttern und die Alten sind unter sich, es ist ziemlich warm hier, draußen der kalte Wald, ich glaube es ist ein schönes Dorftreffen, stimmt's Töchterchen? Ja, Vater, alle freuen sich hier auf die Vollmondnacht, Und doch fürchten sie manche, so der Wirt wieder auf seinen alten Freund schauend. Ja, ich fürchte sie, Freund, aber hättest du die Leiche gesehen, du hättest diese Nacht auch gefürchtet! Wessen Leiche? An der Tür stand ein Mann, der vollständig verbunden war, Jacke über Jacke hatte er angezogen, zitternd trat er aus der Finsternis, Na die seines Bruders, Aber nicht doch, du bist noch nicht genesen, trat das Töchterchen an den Mann, Komm', komm' ich begleite dich hinauf, du musst schlafen. Sie brachte den vom Werwolf angegriffenen wieder hoch in seine Schlafkabine. Wisst ihr was man noch über Werwölfe sagt? Wolfgang wusste genau was jetzt kommt, wahrscheinlich hatte der Verbundene alle im Raum erschrocken, mit seinen roten Augen und der roten Nase und schweißgebadet wie er war. Man sagt, naja, was glaubt ihr denn, wie man zum Werwolf wird? Nein, keine Ahnung, sagte einer, Und wir wollen es auch nicht wissen, Ich möchte es euch aber sagen. Wolfgang fand das Gespräch lustig, weil er wusste, dass Tragik und Komödie ganz nah beieinander liegen. So traurig die verlorene Lage aller hier war, so lustig war sie. Wie konnten diese dummen Dorfbewohner glauben, dass diese Herberge sie hätte vor einem Werwolf schützen können, wenn die gesamte Hütte - Wolfgang konnte sich sowieso nicht vorstellen wie ein gesamtes Dorf hier reinpassen konnte - aus Holz bestand. Dann versammeln diese Menschen sich immer an Vollmond und weil vermutlich die Zimmer nicht reichen, mischte man alle Menschen nach Alter und quetschte sie in die Zimmer - ein gefundenes Fressen für einen Werwolf, der momentan in Form eines verletzten Mannes, sobald seine Uhrzeit eintrifft, ein Massaker anrichten würde. Als hätten alle das Gleiche gedacht, drehten sich die Köpfe nun zu den finsteren Treppen, Das muss ein Werwolf sein, wir müssen einen hinaufschicken, er muss nach unseren Kindern und Frauen sehen, Und nach meiner Tochter, so der völlig zerstreute Wirt dazu. Nach heftigen Gemurmel und Beraten, waren sich die alten Männer einig, Du wirst nachsehen, Wer, Du, du bist ein Fremder! Hätte Wolfgang nicht an das Gute im Wirt geglaubt, er hätte diese Entscheidung voraussehen können. Er hätte auch einen Streit auslösen können und den einen oder anderen dieser Greise wohl zu Boden gestampft, er wäre gegen sie alle angekommen, aber angesichts der Tatsache, dass er seinen Dank in keiner anderen Weise zeigen konnte und er draußen vermutlich einen weiteren Werwolf als Gegner hätte, der durch Kampfgejaule in den Zimmern, sowieso angelockt worden wäre, stellte er sich der Entscheidung der Männer und stand auf.
Das erinnert mich an den Mann mit der Silberschere, sagte einer unter ihnen, Wolfgang war verwirrt aber hörte schon nicht mehr zu sondern nahm die Silberschere an sich. Der Mann mit der Silberschere war ein Mann aus dem Dorf gewesen, der mit nichts außer eben dieser Schere, gegen einen solchen Werwolf kämpfen musste. Er hatte 'tapfer' gekämpft sagten sie, denn die Schere als Mörder seines Selbst, war ihm weniger schmerzhaft, als die Zähne eines grauen Ungetümes. Einen tiefen Schnitt hatte er sich in den Hals verpasst, sein Blick blieb völlig starre. Manche Dorfbewohner meinen, er hätte den Wolf gesehen und das war sein letzter Blick gewesen, andere sagen, dass das die Strafe für den Selbstmord war und die letzten meinten, er hatte sie vor Schmerz weit geöffnet, bevor er starb. Wolfgang glaubte keiner Variante, sondern hatte nur Tollmut, jemanden oder etwas zu erlegen.