Der Brief

“Hier muss es sein", murmelte der Verzweifelte den Briefumschlag ansehend.

“Was du da wieder berechnest”.

Aus seiner Konzentration gerissen, schaute er Luna schief an.
“Naja, du bist der einzige Mensch der auf leere Papiere starrt”, fügte sie lächelnd hinzu. “Schriftsteller”, antwortete er, “Schriftsteller tun das auch”.
Sie standen vor einem riesigen Gebäude mit verschiedenen Eingängen, Treppen und einer Vielzahl von Säulen. Im dunstigen Nebel stellten die beiden nur blasse Schatten dar. Sie hatten dicke Jacken, Stiefel und große Rucksäcke auf. “Und was jetzt?”, fragte der Verzweifelte. Luna nahm entschlossen den Brief in die Hand, “wir müssen da rein und den Briefkasten finden”. Der Verzweifelte krallte sich den Brief zurück, “wie soll das gehen? Siehst du eine Adresse auf dem Brief? Nein. Ich bin schließlich der einzige Mensch, der auf leere Papiere starrt”. Luna sah ihn verlegen an, "so war das nicht gemeint, es sah nur süß aus". "Schon gut, schon gut, wir müssen uns für einen Eingang entscheiden", wehrte der Verzweifelte ab, "am schlausten wäre es, wenn - ". Luna nahm ihn an der Hand und zerrte ihn hinter sich her. Der Verzweifelte entschied sich zu schweigen, statt irgendetwas zu sagen, und damit verletzend zu werden. Sie verschwanden in irgendeinem der Eingänge und entzogen sich dem kalten Nebel.
“Das sind aber viele Gänge hier”, sagte Luna. "Du musstest ja willkürrlich rein, ein Wunder, wenn wir uns nicht verlaufen", brummte der Verzweifelte. "Nun sei nicht so", streichelte sie seinen Kopf, "ich wusste ja nicht wie viele Gänge das Teil hat". “Ja, die Kanzleien sind groß”, sagte der Verzweifelte, “wie soll man hier einen Briefkasten finden, wenn auf dem Briefumschlag keine Adresse ist”? Luna sah einen Augenblick verstehend auf den Boden, dann sah sie ihn wieder an: “Sieh' das alles nicht so finster, das wird schon”.
Die beiden hatten sich in irgendeinen der warmen dunklen Gänge niedergesetzt und sahen sich um, wenn es denn viel zu sehen gab, außer bepflasterte Steinwände. "Was für ein Altbau", staunte Luna, während der Verzweifelte mit den Fingern über die staubigen Bausteine strich, "allerdings, das Gebäude ist ein uraltes Gefängnis, seit ein paar Jahren ist es eine Kanzlei". Die Gänge waren tadellos still und man konnte weder Anfang noch Ende der Tunnel sehen, das lag aber nicht daran, dass sie zu weit weg waren, sondern dass die Finsternis besonders intensiv war und somit die Sichtweite um ein vielfaches verkürzte, als in anderen dunklen Gängen, irgendwo, in irgendwelchen anderen Kanzleien. "Vielleicht tasten wir uns einfach voran und suchen so die Briefkästen", schlug Luna vor. "Engelchen, du hast das Gebäude von außen aber schon betrachten können, oder?", meinte der Verzweifelte in völliger Ironie. "Ja natürlich, wieso fragst du"? 
"Ich liebe dich", sagte der Verzweifelte und meinte damit eigentlich, "wenn Dummheit und Hoffnung so nah zueinander sind, dann möchte ich auch dumm sein". 
"Ich dich auch", antwortete sie, nahm seine Hand und führte ihn, tastend, kriechend durch die Gänge. Die Luft war stickig und so warm, dass sie getrost die Jacken in die Rucksäcke packen konnten und die Hosen hochkrempelten. Es gab Treppen, Sackgassen, kleine und große Gänge. Viele schmale Holztüren, jedoch nirgendwo einen Briefkasten. "Das müssen Nebenräume sein", sagte der Verzweifelte, "wir müssen eine große Türe mit Briefkasten finden". "Da hinten, da ist doch etwas", kündigte Luna ihre Entdeckung an. Tatsächlich wurde die Schwärze durch eine Öllampe unterbrochen. Ein feuriges Licht, flackernd und schwach. Als sie sich näherten, sahen sie eine kleine Öffnung - ein Fenster. Auch ein Holzbrett war an der Wand angebracht, vermutlich zum Klopfen. Luna klopfte zweimal und tatsächlich setzte sich irgendwas, hinter der Öffnung, in Bewegung. Irgendwer schnaufte wohl, richtete sich auf, räusperte. Dann kurze Stille und ein höfliches, "Guten Tag", und ein anschließendes, "Wie kann ich ihnen behilflich sein"?
Der Verzweifelte wollte mutig die Führung des Gesprächs übernehmen und drängte sich vor Luna, dabei streifte sein Hand höflich ihre Hüften - das war in der Enge des Ganges unvermeidbar. Im Angesicht der Öllampe war es hier auch noch viel heißer als im restlichen Gang. Wenn der Bediener raussah, sah er also eine junge Frau mit einem jungen Mann, die mit glänzenden Gesichtern und angestrengtem Blick, zusammengequetscht, durch das Fenster, zu ihm rüberstarrten. "Wir haben diesen Brief, den würden wir gerne irgendwo abgeben". Der Mann, von dem man nur das Gesicht sah, verzog die Augenbrauen sofort, dann murmelte er irgendwas vor sich hin und fragte zuletzt deutlicher: "Wohin muss er denn"? Der Verzweifelte vergewisserte sich nochmal: Es war keine Adresse auf dem Brief zu sehen. Dann antworte er: "Zur Hauptstelle". Als Antwort erhielt er wieder ein verwirrtes Gesicht und dann die Frage,welche Hauptstelle er meine, die Kanzlei habe hunderte von Hauptstellen für tausende von Abteilungen, sie sei gigantisch, und das hier wäre lediglich ein Pausenhof der Beamten.
"Das ist der Pausenhof, so so", er schaute Luna an, "ein ziemlich kleiner Pausenhof", sie wiederum fügte hinzu, "und ein ziemlich enger dazu". Im Klaren darüber, nicht mehr als das, was sie wussten, von diesem Beamten erfahren zu können, taten sie so, als reiche es und verabschiedeten sich höflich und dankend. Als sie weiter in Richtung Finsternis gingen, hörten sie wieder die Geräusche, die der Mann gemacht hatte, als er sich aufrichtete, diesmal wohl zum wieder einnicken. "Faulpelz", ärgerte sich der Verzweifelte halblaut. "Da hätte dir auch jeder Plan nichts genutzt, es sind tausende Abteilungen, du hast ihn gehört", neckte Luna ihren Geliebten. Dieser aber sagte nur, "du weißt alles besser, Engelchen". 
"Kommen wir zurück zum Brief", rationalisierte Luna das Problem, "er ist ohne Adresse und wir haben auch sonst keinen Briefkasten gesehen, was wenn wir einen Briefkasten finden, der aber eine Bezeichnung hat"? Der Verzweifelte vereinfachte: "Dann schmeißen wir den Brief in einen Kasten ohne Anschrift, so einen müssen wir nunmal finden". "Oh, Geliebter", sagte Luna ironisch, "dein Plan ist grandios", und dann scherzwütend, "bis auf die Tatsache, dass es entweder gar keinen oder mindestens zwei solcher anschriftslosen Briefkästen geben kann"! Der Verzweifelte sah ein, antwortete dann: "Nun, dann suchen wir, nach dem ersten, einfach einen zweiten Briefkasten. Gibt es nach bester Suche und einem aufrichtigen Gewissen keinen zweiten namenslosen Briefkasten, so suchen wir den ersten wieder und werfen ihn ein, und gehen in den Nebel der Ungewissheit zurück".
"Das funktioniert alles nur, wenn wir sowohl einen ersten Briefkasten, dann keinen zweiten, als auch den Ausgang wieder finden", sagte Luna, "hätten wir doch bloß irgendeine Spur hinterlassen". 
Der Verzweifelte verzweifelte: "Wir reden uns hier dumm und dämlich, merkst du denn nicht, dass es immer finsterer wird und du immer schwächer. Vielleicht ist dieser Brief ja an niemanden gerichtet, es steht schließlich keine Adresse darauf. Logisch gesehen, ist er an niemanden".

Luna aber, zerstreute seinen faulen Plan sofort: "Und vielleicht ist dieser Brief ja an die Menschheit, vielleicht ist er an alle gerichtet"? Der Verzweifelte nahm den Brief in die Hände und starrte ihn wieder an, dann legte er ihn auf den staubigen Boden, gab seiner Frau einen Kuss, und hielt ihre Hand fest. "Wir haben unsere Pflicht erfüllt, den Brief in der Kanzlei abzugeben", flüsterte er ihr zu, "vielleicht besteht eine Pflicht daraus, die Unpflichten nicht zu begehen, und so haben wir nie in den für uns verbotenen Brief reingeschaut". Luna nickte und hielt seine Hand fester, "dein Wille ist mein Wille, du bist mein Mann". Sie liefen Richtung Ausgang und als sie den Beamten am Pausenhof trafen, schlug dieser vor, er erzähle ihnen eine Geschichte. Von ihrer Verantwortung entlastet entschieden sie sich zu bleiben. In der Hitze der Öllampe hörten die beiden dem Beamten gespannt zu: "Es gab einmal zwei befeindete Könige, jedesmal als einer der beiden einen Boten entsandte und damit eine Nachricht, tötete der andere seinen angekommenen Boten, während er einen neuen entsandte und dieser vom gegenwärtigem König getötet wurde. Über viele Jahre, starben viele Boten, bis sich einer entschloss zu lügen und die Nachrichten so zu verfälschen, dass Frieden entstand. Doch als sich die Könige dann einmal sahen, auf einer Hochzeit eines anderen Königreichs, da schlugen sie sich gleichzeitig die Köpfe ein und der Bote, der die Nachricht verfälscht hatte, lachte sich tot".