Medina

Die beiden Wanderer umkreisten schon lange die selben Dünen. Als sie jetzt ihre leicht verwehten Fußspuren wiedersahen, gab es keinen Zweifel mehr über den Ernst ihrer Lage: Sie hatten sich in der Wüste verirrt. 

Vater und Tochter waren aus einem Dorf nordwestlich geflohen. Die Mutter des Mädchens und gleichzeitig Ehefrau des alten Mannes, war in diesem Dorf geblieben. Vielleicht war sie das Opfer, das Vater und Tochter bringen mussten, um fliehen zu können.
Vielleicht war ihr Tod der Vorwand gewesen, um endlich verschwinden zu können. ‘Es war nicht wichtig wo man herkommt, wichtig war es wohin man ginge’, hatten sie von ihren Vorvätern gehört, und deshalb verschwendeten die beiden nicht viel Gedanken an die Vergangenheit, die mit Trauer und Verlust verbunden war, und zogen in die Wüste, einen besseren Ort aufzusuchen. Weinen kam nicht in Frage.
Tränen, die von dieser Trauerlast im Herzen befreien würden, würden in dieser Trockenheit nur einen Tod näherbringen. Das letzte Wasser war aufgebraucht, wobei man zur Verteidigung der beiden sagen muss, dass sie wirklich sparsam damit umgegangen waren.
Der Vater - ob nun bewusst oder nicht - hatte mehr Wasser getrunken, zumal er auch älter und nicht mehr so standhaft war. Mit ihrem Kamel war es möglich, abwechselnd zu laufen oder zu reiten, ein großes Geschenk, wenn man bedenkt, dass sie seit einigen Stunden unentwegt und dazu noch umsonst, im Kreis herumgeirrt waren. Aber als selbst die Müdigkeit des Kamels deutlich wurde, begann die Hoffnung zu Überleben wirklich zu schwinden. Keiner der beiden hatte ein Wort geredet, ihre leidenden und ausdrucksvollen Blicke setzten aber genügend Zeichen. Noch waren sie bemüht weiterzumachen, noch war der Glanz des Lebens in ihren Augen zu sehen.

Es ist in seiner schwersten Stunde, da der Mensch die Verzweiflung anerkennt, seinen Stolz mit Füßen tritt und um Hilfe bittet. So verhielt es mich nämlich mit dem Vater, er fiel in die Knie, schaute nach oben, die Arme ausgestreckt, schrie er lautstark, "Helft mir!", aber es geschah nichts. Dann wieder, nur diesmal nicht ganz so laut, "Helft mir!", und es geschah wieder nichts. Dann senkte er den Kopf und auch seine Hände sanken bis zur Höhe seiner Brust, "Hilf mir", flüsterte er durch die staubtrockene Kehle, nur noch bescheiden und völlig verzweifelt.
Seine Gebete wurden wahrscheinlich erhört, es passierte endlich etwas. Eine heiße Metallklinge streifte seinen Hals. Ein Säbel, das den Mann zunächst erschreckte, sodass er die Augen, aus Reflex, fest zudrückte als sei das Schwert aus dem Schmelzofen gezogen worden, aber es war lediglich ein kurzer Schreck. Nach diesem, bewegte er den Kopf langsam weg und öffnete unsicher die Augen. Dann hielt jemand seinen Kopf fest und näherte auch wieder das Schwert.
Der Mann verzog wieder sein Gesicht, fast aufgebend. Seine Tochter schrie, aber nur so lange, bis ein Mann seine dreckigen Hände auf ihren Mund drückte. Unter dem Gebrüll des Kamels wurden die beiden von den Banditen verschleppt und gegen Abend in ein Zelt geworfen. Die Tochter bekam Wasser, aber nur um eine gewisse Lebenskraft hervorbringen zu können und dementsprechend auch entehrt zu werden. Unter Tränen wurde sie ihrem Vater zugeworfen, der gefesselt auf dem Boden des Zeltes lag. Sie schliefen ein; schluchzend, sich umarmend. Sie konnten sich nicht in die Augen sehen und schliefen irgendwann ein.
In dieser Nacht, hatte der Mann einen seltsamen Traum. Ob es an der Erschöpfung lag oder einem endgültigen Aufgeben, das kann man trivial nicht feststellen, aber als sie wach wurden, erzählte er seiner Tochter davon:
"Ich habe einen Mann gesehen, so ehrenvoll, so wundervoll. ‘Er ist die Hoffnung der Menschheit’, sagten die Leute um mich herum. Ich habe ihn gesehen, aber nur von hinten. Seinen Rücken. Ich habe seinen Rücken gesehen. Er war stattlich. Ich zitterte heftig und hatte große Angst. Dann sagte man mir, ‘fürchte dich nicht. Er ist ein Mensch, wie wir. Er aber, ist stattlich, wohltuend. Er ist der Befreier.’ Ich fand in meinen Händen eine Rose, Tochter! Ich hatte mich an ihren Dornen verletzt. Aber ihr Geruch war ungemein schön. Eine Rose in der Wüste. Hoffnung!". 
Plötzlich vernahmen Tochter und Vater Geschrei und Klingengeschirr von draußen. Ein Kampf musste stattfinden. Sie umarmten sich und schlossen die Augen: “Keine Sorge, Töchterchen. Er wird uns helfen.” Alles was nach der Schlacht übrig blieb, waren Leichen und Proviant der Banditen, die von anderen Banditen getötet worden waren. Kein einziger Mann war am Leben geblieben, die letzten hatten sich gleichzeitig Säbel ins Herz gebohrt. Der Vater hob die Arme wieder in die Höhe: “Danke! Du hast meine Gebete erhört! Nicht auf sie alle, aber auf dich allein verlasse ich mich”! Sie nahmen die Kamelherde mit und tranken und aßen von den Überresten, die in der Sonne sonst verfaulen würden. Als der Vater in eine Dattel biss, vernahm er in der Ferne ein Geräusch, etwas wie Gesang, jedoch wertvoller. Die Sonne stand ganz oben am Himmel. Seine Augen wurden klarer und er sah die Umrisse einer Stadt.
Von nun an, sollen keine Frauen entehrt, keine Töchter vergraben, keine Mütter zurückgelassen werden. Von nun an, ist die Zeit der Glückseligkeit und des Friedens gekommen, die Zeit der Rosen. Jedes Glück hat sein Opfer, jede Rose seine Dornen. "Ich komme zu dir, O Mann der Rosen, Befreier und Hoffnungsträger der Menschheit!", sagte er mit Glückstränen in den Augen und trat langsam in die Stadt ein. Es war bereits Dämmerung als er wieder diesen eigenartigen Gesang vernahm. “Ja, er ist groß”, bestätigte er dann den Singenden, und sein Herz fand einen Frieden, wie er ihn noch nie zuvor verspürt hatte.