Der Tod fragt nicht wann

“Wach auf”.
Was?
“Wach auf”.
Wo bin ich?
Die Stimme schwieg.
Als M. sich aufrichtete bemerkte er, dass er an einem Ort war, den er vorher noch nie gesehen haben konnte. Die Finsternis war so pur, dass er mehrmals die Augen schloss und öffnete, und entsetzt feststellen musste, dass er nichts sehen konnte. Das erinnerte ihn an seine Kindheit, als er dachte er sei blind geworden, als er eines Nachts aufgewacht war. Doch dieses Mal gab es keinen Zweifel: Er musste blind geworden sein. Doch woher kam diese Stimme?
Hey! Wer bist du?
“Die Frage ist nicht wer ich bin, sondern wer du bist”.
M. war verwirrt, wollte aber in seiner schwachen Position keinen falschen Stolz beweisen.
Ich möchte nur wissen was hier los ist. Ich weiß nichtmal ob das ein Traum ist. Es ist erschreckend echt. Also verrate mir bitte wer du bist und wo ich bin.
“Ich bin nachgiebig, ich verrate dir wer ich bin. Aber du musst wissen, dass es hier um dich geht, nicht um mich. Naja, ich? Ich bin nur ein Botschafter der für dich bestimmt ist. Ich muss dir nur mitteilen, was geschah.”
Für M. wurde durch die Antwort der Stimme nichts geklärt, im Gegenteil: Sein Verständnis wurde nur trüber und er war weiterhin verwirrt.
Was ist denn mit mir geschehen?
“Versuche dich doch mal zu erinnern M.”.
M. erinnerte sich zuerst schwach, dann immer prägnanter.
Ah. Ich war mit L. im Auto. Ich bin gefahren, sie saß neben mir. Moment mal.
Als wäre die Schwärze sein Verstand, färbte sie sich plötzlich und verbildlichte die Situation. Alles wurde bunt und klar. Das Auto auf der Autobahn, der hellblaue Sommerhimmel, die wandernden Wolken und der Wald rechts neben Leitplanken.
Da! Da sind wir.
“Ja, ja. Das seid ihr. In dem Auto. Siehst du”, lächelte die Stimme.
Aber was passiert da jetzt?
“Jetzt fährst du über der zulässigen. Höchstgeschwindigkeit, deine Konzentration sollte auf ihrem Maximum sein.”
War sie aber nicht, oder?
“Ganz recht, das war sie nicht. Aber woher willst du auch wissen, dass du bei einem Autounfall sterben würdest? Ich meine, es hätte auch ein Herzinfarkt sein können, da du jeden Tag dieses Energy-Zeugs trinkst. Aber nun, schweifen wir nicht ab. Es war der Autounfall. Sieh jetzt ganz genau hin”.
Da hinten. Der Typ überholt den Lastkraftwagen. Das ist nicht meine Schuld.
“Ja. Ausnahmsweise ist es nicht deine Schuld gewesen. Aber dein Fahrstil gefiel mir sowieso nicht”, grinste die Stimme wieder.
Und dann passiert Es?
“Und dann passiert Es. Bei dem Unfall kommen lediglich zwei Menschen ums Leben. Der Lastkraftwagenfahrer wird verletzt. Die Familie dort, die werden auch nur verletzt”.
Moment. Ich gehöre zu denen die sterben, oder?
“Ja”.
Das ist kein Traum?
“Nein”.
M. kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Und wer ist die andere Person die stirbt?
“Es ist deine Freundin, L.”.
M. beginnt zu winseln und zu flehen.
Du lügst! Du lügst! Das kann nicht sein!
“Nun beruhige dich, lass uns doch weiter beobachten, was geschieht”.
Der Lastkraftwagenfahrer klettert aus dem gestürzten Giganten. Das Familienauto liegt quer auf einer Spur und ist an jeder Seite demoliert.
“Da, siehst du das Mädchen? Sie ruft gerade einen Krankenwagen. Das ist ihre erste Heldentat in siebzehn Jahren Leben.”
Aber was ist mit uns? Wo sind wir?
“Hast du euch noch nicht erkannt”?
Die da?
“Ja”.
Das sind wir?
“Ja”.
M.s Tränen beginnen sich wieder zu sammeln.
“Weine nicht. Das wird jedem eines Tages widerfahren. Das Mädchen zum Beispiel, das den Notarzt gerufen hat. Sie hat in sechsundsechzig Jahren das Vergnügen”.
M. sieht ganz genau auf seinen Körper. Er hält die Hand von L. und sieht sie ein letztes Mal an, dann leert sich sein Blick. Der Glanz in seinen Augen verschwindet. Seine linke Körperhälfte ist völlig entstellt. Sein linkes Bein ist abgetrennt und vor lauter Blut sind Haut, Knochen und Muskeln nicht mehr zu unterscheiden. Seine Freundin hingegen ist garnicht mehr zu erkennen. Die gesamte rechte Hälfte des Wagens ist nämlich verpresst.
Ich bin tot. Da. Ich bin eben gestorben. Siehst du.
“Ja, du bist gestorben. Gestern. Obwohl du dich übermorgen verloben wolltest, weißt du noch”?
Alles färbt sich wieder schwarz.
Und was ist heute?
Plötzlich beginnen Lichter zu scheinen und zu flitzen. Links und rechts von ihnen. Die Schwärze verliert sich wieder. Ein von Mauern umrahmter Garten mit Steinen auf denen Namen gemeißelt sind, erscheint. Grün, grau, schwarz.
“Heute ist deine Beerdigung. Schau. Da sind die Leute. Sie beten und trauern für dich. Deine Eltern. Deine Geschwister. Deine Freunde und manch Feinde. Ach. Lass das. Das nützt nichts. Sie können dich nicht hören”.
M.s Tränen bilden eine Pfütze und seine Hände sinken im Wasser.
“Alles in Ordnung”?
Er schluchzt nur noch leise.
“Jetzt begraben sie dich”.
M.s Augen öffnen sich weit. Er fährt blitzschnell in seinen toten Körper und findet sich im Sarg wieder. Er schreit und schreit. Aber keiner kann ihn hören. Er aber, hört immer und immer wieder die Erde die auf den Sarg geworfen wird.
“Du bist nun allein. Deine Freundin wird vermutlich anderswo begraben. Deine kleine Schwester hat geweint und dein Vater hat sie in den Arm genommen. Dein Cousin versteht nichts davon. Er ist erst drei wie du weißt. Dein Großvater ist nur traurig, weil er das noch erleben musste. Deine Mutter. Sie stand bis zuletzt noch da. Aber auch sie ist gegangen. Sie alle haben dich in diesem Graben alleine gelassen. In dieser schwarzen Erde”.
Was mache ich jetzt? Besser gesagt, was wird jetzt passieren? Was passiert als Nächstes?
“Ich war nur der Botschafter. Meine Aufgabe ist nun beendet”.
Die Stimme verschwindet und die Schwärze intensiviert sich. Eine andere Stimme taucht auf.
“Sohn Adams”.
Meinst du mich?
“Wo ist dein starker Körper nun? Wo sind deine Arme? Deine Beine? Die Muskeln, die Kraft, die Ausdauer? Deine harten Knochen, wo sind sie”?
M. betrachtet sich und schweigt.
“Wo sind deine schönen Worte, wo ist deine Zunge. Das Romantische? Das Lyrische? Wo ist deine Intelligenz? Die Berechnungen, die Pläne? Wo sind die Rosen und Lilien aus deiner Innenwelt”?
M. kann nichts sagen. Er schweigt und seine Tränen beginnen wieder zu fließen.
“Wo sind die Freunde? Wo ist deine Geliebte? Deine Familie? Sie alle haben dich zurückgelassen. Schwarze Erde. Schwarze Erde ist nun dein einziger Freund”.
M. begreift und bereut, aber es ist zu spät um irgendwas zu tun, irgendwas zu ändern.
“Du hast immer zu, eifrig geplant. Immer zu, im Moment gelebt. Hast an Morgen und Übermorgen, aber nicht an Überübermorgen gedacht. Und hier bist du nun, vor uns. Nichts als ein Häufchen Erde. Nichts als Staub bröckelnder Knochen. Wie die vor dir. So viele vor dir. Viele an denen du dir hättest ein Beispiel nehmen können. Denn du wusstest: Ein Ende wird kommen. Wir fragen nicht, wann du bereit bist. Du musstest jederzeit bereit sein. Aber du hast es beschwichtigt. Sohn Adams, hier bist du nun. Erwarte Konsequenzen. Deine Belohnungen und deine Strafen. Siehe nun auf dein Werk! Auf das Dich, das du geschaffen hast, in dreiundzwanzig Jahren. Herzlich Willkommen, Sohn Adams, in der Realität, in der Ewigkeit. Dein Name ist nicht mehr wichtig. Er ist vergessen. Er war vergänglich. Willkommen, Sohn Adams”.